Werdegang

Unvorhergesehen, verrückt, überraschend –
Klänge, Objekte, Elektronik, Musik –
ein Sammelsurium von Gegenständen: manche kennt man aber man erkennt manches nicht wieder –
Die Folge: staunen, grübeln, lachen und lauschen.

Atonor bewegt sich in einem bizarren Klangsurrealismus, in welchem alltägliche Gegenstände aus ihrer ursprünglichen Funktion aus- und in neue Welten einbrechen. Das Ensemble lässt die Grenzen sowohl zwischen Mensch und Objekt, als auch zwischen den Künsten selbst verschwimmen.

Leise knarrend öffnet sich eine Wandgarderobe und rauscht vor sich hin. Die Schwingbox zuckt mit ihren weißen Stäben im Raum herum und vollführt einen Fechtkampf zwischen hohen und tiefen Tönen. Der Musiktrainer fährt Melodien vor einem Pult mit alten Telefonen, deren unablässiges Wählen von Nummern einen Rhythmus aus perkussiven Geräuschen bildet. Der graue Hörer wird abgehoben, die Metallpole stehen unter Strom, der Leuchtstoffröhrensequenzer flackert ein letztes Mal auf und der Nervtöner schweigt.

Atonor setzt sich mit der faszinierenden Magie der Dinge auseinander. Das Ensemble ist ARTifizielles Thema Ohne Notwendigkeit Obligatorischer Richtung, soll heißen – zielfrei, verspielt, ohne Sinn aber mit Verstand, ohne definierte Forschungsabsicht aber mit beständiger Neugier darauf, wie man die Dinge sonst noch sehen könnte. Dabei gibt es zwei gemeinsame Nenner: All das, was Atonor tut, wird von einem feinen Humor durchdrungen und all das, mit dem Atonor werkelt, entstammt der Schmiede des Klangkünstlers Erwin Stache.

Scherengitter, Saitenschaukel, Tonschnüffler, MIDI-fone, Spielkartons, Kilo Ohm, Klangflussreiniger, Zentrifugalseilkraftsampler, Optomäuse, Fußballbass, gestimmte Sperrholzplatten, ABÖ-Buchstabenspiel, Klangsprungflächen, …

So auch Atonor selbst.

Die Gruppe wurde 2002 von Erwin Stache als schulische Arbeitsgemeinschaft, zunächst unter dem Programmnamen „Appetit auf Klänge“, am Gymnasium Brandis bei Leipzig ins Leben gerufen, mit dem Ziel, das Verständnis von Klang und Musik weit über herkömmliche Grenzen hinaus zu erweitern. Die zehn beteiligten Jugendlichen begannen zusammen mit Erwin Stache, musikalische Performances auf dessen akustischen und elektronischen Instrumenten zu entwickeln. Nach einem Jahr erfolgreicher Zusammenarbeit war es sowohl für Erwin Stache, als auch für die beteiligten Lehrer beschlossene Sache, die Gruppe weiterzuführen. Allerdings verursachten die Abiturvorbereitungen den Ausstieg fast der Hälfte der ursprünglichen Besetzung, sodass für das kommende Jahr auch jüngeren Schülern des Brandiser Gymnasiums der Zugang ermöglicht wurde.

Die neue Formation nannte sich fortan „AG Klangexperimente“, bestand aus ein bis anderthalb Dutzend Fünft- bis Elftklässlern und ihr erstes großes in Leipzig uraufgeführtes Programm hieß „Musik fällt aus!“, an welchem noch fünf weitere Schulen beteiligt waren. Der Titel ist zweideutig und weist sowohl auf die (damals noch stärker als heute) allgemeine Unterbewertung dieses Faches in der Schule hin, als auch auf die Suche nach Klängen, die aus kunstfremden Unterrichtsfächern herauskristallisiert werden können. Auf diese Weise wurde ein ganzer Schultag klanglich interpretiert.
Dementsprechend entwickelten die Schüler mit Erwin Stache und weiteren Komponisten Sprechstücke für Deutsch, bedienten Sensoren zur Klangerzeugung für Physik, performten ein laut-geräusch-malerisches Enmaleins für Mathematik usw. Sogar die Brandiser Chemie-AG beteiligte sich und führte für gleichnamiges Fach Reaktionen nach Partitur durch.
Mit diesem Programm, welches den Grundstein für die weitere Arbeit des Ensembles legte, erhielt AG Klangexperimente 2005 den Preis „Kinder zum Olymp!“ und trat auf zahlreichen Festivals auf, u. a. mehrfach bei den Münchner Klangaktionen unter J. A. Riedl, dem Leipziger Klangrauschfestival unter Steffen Schleiermacher und den Stelzenfestspielen bei Reuth unter Henry Schneider und Erwin Stache.

In jener Zeit erlebten die Brandiser Pennäler auch ihre erste fachinterne „Convention“ in Form des 35-jährigen Bestehens der Neuen-Musik-AG des Leininger Gymnasiums. So reisten sie nach Grünstadt, um mit Gleichgesinnten zu musizieren, namentlich mit der AG vor Ort sowie mit der AG Neue Musik des Hertzhaimer Gymnasiums Trostberg.

Neben dem beständigen Ausloten neuer Objekte und Klänge entstand 2007 in und um Kaditzsch (nahe Grimma) der erste Kurzfilm des Ensembles mit dem Titel „Zur selben Zeit am anderen Ort“, in welchem sich ein Mädchen mit einer durch einen alten Reisekoffer verbundenen Parallelwelt und deren surrealen Klangbewohnern auseinandersetzt.
Im gleichen Jahr wechselte die Gruppe dann erstmals in größerem Stil ihre Rollenperspektive, als sie zusammen mit der Leipziger Erich-Kästner-Schule das Programm „Still Schrill“ entwickelte. Auf einmal waren die Brandiser nicht mehr ausschließlich Lernende, sondern gleichzeitig auch Vorbilder, die ihre musikalischen Erfahrungen mit noch jüngere Menschen teilten. In den kommenden Jahren sollten noch einige Kooperationen dergestalt folgen. Zunächst aber gewann das Ensemble zusammen mit seinen Leipziger Zöglingen zum zweiten Mal den Preis „Kinder zum Olymp!“.

2008 begann sich die AG Klangexperimente aus ihrem schulischen Umfeld zu lösen.

Einige gingen und neue junge Menschen kamen aus den umliegenden Ortschaften hinzu. In den Folgejahren war die Gruppe durch häufig wechselnde Mitglieder und eine Neuausrichtung ihrer Tätigkeitsschwerpunkte geprägt. Der bisher vorwiegend auf Festivals der E-Musik verortete Fokus erweiterte sich zunehmend auch auf kleinere Auftritte zu allen möglichen kunstnahen und -fernen Anlässen. Im Zuge dessen erweiterte sich einerseits das Programm in Form kürzerer, autarker Stücke. Andererseits reduzierte sich die Auftrittsbesetzung insgesamt auf eine kompaktere Größe von zumeist vier bis sechs Akteuren, die fortan unter dem Namen „Atonor“ agierten.
Neben einer regen inländischen Konzerttätigkeit tastete sich das Ensemble nun auch in das europäische Ausland vor. Außerdem begann es, Kooperationen mit der darstellenden Kunst einzugehen – die erste und längste dieser Art mit dem Theater der Jungen Welt.

Bis zum Anfang der 2010er Jahre transformierte sich Atonor von einer Schul-AG zu einem eigenständigen, professionellen Ensemble, in welchem des Gründers Sohn Benjamin Stache nach und nach die Leitung übernahm.
Das Repertoire wurde erweitert und nicht wenige neue Stücke kamen hinzu, die vor allem rhythmisch aufwendiger waren. Damit einher ging 2011 ein Besetzungszuwachs in Form von Berliner Schlagzeugstudenten, was das Einzugsgebiet des Ensembles nochmals erweiterte.

Ab da setzte sich das Quartett als bevorzugte Auftrittsformation endgültig durch, welches in den folgenden Jahren in verschiedenen Besetzungen das Programm „Drahtig – Elektrisch – Abgefahren“ präsentierte, das die neue Zusammensetzung und Ausrichtung der Gruppe widerspiegelte, denn neben performative Stücken mit Schwerpunkt auf Szene und Klang standen nun gleichberechtigt rein rhythmisch-musikalische Nummern auf dem Spielplan.

Bis 2015 bildete sich schließlich eine Besetzung heraus, die für das restliche Jahrzehnt nahezu unverändert blieb und deren Mitglieder ein breites künstlerisches Feld abdeckten.
Neue und wiederentdeckte Klangobjekte bildeten die Grundlage zur Kreation eines rhythmisch-tanzbaren Programms, welches ab 2016 das Repertoire ergänzte.
Die logische Folge war dann, sich auch direkt mit dem Tanz zu beschäftigen und so arbeitete die Gruppe seit 2017 mehrmals mit Tänzerinnen zusammen.

Atonor verschreibt sich bis heute dem vielfältigen akustischen und elektronischen Instrumentarium seines Gründers Erwin Stache. Das Ensemble entwickelt damit ein außergewöhnliches Repertoire, welches sich über Genregrenzen hinwegsetzt, Hör- sowie Sehsinn gleichermaßen adressiert und eine Mischung aus Experiment, Klangkunst, Humor und rhythmischer Show darstellt.
Dementsprechend ist das Ensemble seit jeher auch auf sehr unterschiedlichen Veranstaltungsformaten – zu Lande, zu Wasser, auf der Bühne oder unter Menschen – in ganz Deutschland und darüber hinaus aktiv, zuletzt u. a. in Leipzig (u. a. Sommertheater in Koop. mit dem TdJW, Schumannfestwoche, „Unentwegt Unterwegs“ – Wandelkonzert am Geyserhaus, „1000 Jahre Leipzig“ in Koop. mit Theater Titanick, MDR-Hörspielsommer, „Der fruchtbare Augenblick“ in Koop. mit dem Leipziger Tanztheater), Berlin (u. a. Festival für selbstgebaute Musik, Organovino-Festival), Donaueschingen (Musiktage, upgrade-Festival), Stelzen (Landmaschinensinfonie u. a. in Koop. mit Dr. Tanne M. C.), Beucha (u. a. Klangpfad um den Kirchbruch), Mühlenbeck (Mühlenbecker Klanglandschaften), Weimar (u. a. Dadamenta), Freiberg (u. a. Varieté der Möglichkeiten), Breslau (europäische Kulturhauptstadt in Koop. mit dem TdJW), Marseille (MIMI-Festival), Wiesbaden (Kunsthaus „hören | machen“), Ahlen („PhänomexX“, Soundseeing-Festival), Mülheim (Weiße Nächte), Köln (Stromfestival) und vielen weiteren Orten, stets mit dem Ziel, eine Situation zu erschaffen, in welcher das Publikum nicht weiß, worüber es mehr staunen soll: Über die Objekte selbst oder über die Art und Weise, wie sie eingesetzt werden.